Jeden Sommer schmelzen auf dem Morteratschgletscher im Engadin mehrere Millionen Tonnen Eis. Je kleiner die schützende Schneedecke auf dem Gletscher ist, desto schneller schmilzt das Eis, denn Schnee reflektiert das Sonnenlicht sehr stark. Wenn nun auch während der ganzen warmen Jahreszeit genug Schnee auf dem Gletscher läge, könnte man die Gletscherschmelze stoppen. Dies haben Berechnungen von Glaziologe Johannes Oerlemans ergeben.

Das von Innosuisse unterstützte Projekt hat zum Ziel, den Morteratsch mit einem komplexen Schneiseilsystem technisch zu beschneien. Dazu werden über den Gletscher Drahtseile mit Schneilanzenköpfen gespannt. Für die Erzeugung von Schnee wird Schmelzwasser verwendet, die benötigte Druckluft wird allein durch die Energie des Wasserdruckes eines benachbarten Gletschers erzeugt – auch das ein ehemaliges KTI-Projekt.
«Die Idee kam mir beim Fischen»
Dr. sc. nat. Felix Keller, Glaziologe Zentrum für Angewandte Glaziologie der Fachhochschule Graubünden und Academia Engiadina
29. August 2015: Beim Mittagessen mit dem CEO der Academia Engiadina haben wir über die desolate Lage der Gletscher gesprochen. «Man muss das Abschmelzen des Morteratschgletschers stoppen können», sagte Matthias Steiger mit Blick auf die erstaunlichen Nachrichten über den Diavolezzagletscher: Durch sommerliches Abdecken mit Vlies war die Eisschicht 10 bis 15 Meter dicker geworden. Beim viel grösseren Morteratschgletscher sei so ein Projekt unmöglich, entgegnete ich. Das wollte Matthias aber nicht hören. Er verlangte Taten.
30. August 2015: Heute war ich beim Flugplatz Samedan fischen. Der Inn führt Hochwasser – obwohl es schon lange nicht mehr geregnet hat. Die Hitze lässt die Gletscher schmelzen. Unsere Kinder werden nicht fragen, ob wir das Schmelzen der Gletscher nicht gesehen hätten, sondern was wir taten, ging mir durch den Kopf, als ich darauf wartete, dass die Fische anbeissen. Warum behalten wir das Schmelzwasser im Sommer eigentlich nicht oben und produzieren bei tieferen Temperaturen daraus wieder Eis? Je länger ich daran herumstudiere, desto besser gefällt mir die Idee des Schmelzwasser-Recyclings.
12. September 2015: Ich habe meinen Freund, den Glaziologen Johannes Oerlemans, um Rat gefragt. Jetzt haben wir die Lösung, wie wir das Abschmelzen stoppen können: Technischer Schnee soll den Gletscher im Sommer vor der Sonneneinstrahlung schützen. Matthias hat darauf gedrängt, dass ich meine «Fischer-Idee» dem Gemeindevorstand von Pontresina präsentiere. Nun investiert die Gemeinde 17 000 Franken in eine Studie.
15. August 2017: Es ist zum Verzweifeln! Laut unseren Berechnungen müsste man 30 000 Tonnen Schnee pro Tag auf dem Morteratschgletscher produzieren können, damit die Gletscherzunge wieder wächst. Dafür bräuchte es rund 300 Schneilanzen. Weil sich der Gletscher pro Jahr aber rund 90 Meter bewegt, ist das Beschneien vom Boden aus unmöglich. Ich wollte eigentlich schon aufgeben. Aber heute hat mich der technische Leiter der Oberengadiner Bergbahnen auf die Idee gebracht, Seilbahn- und Beschneiungstechnologie in der Form eines Schneiseils zu kombinieren und damit bodenunabhängig zu beschneien.
21. Januar 2018: Vergangene Woche hat sich unser Forschungsteam zum ersten Mal getroffen. Mit dabei sind die Firma Bächler Top Track AG, die ohne Strom Schnee produzieren kann, und der Seilbahnexperte Bartholet Maschinenbau AG. Wir sind alle extrem motiviert und haben folgende Partner mit ins Boot geholt: die Hochschule Luzern, die NTB Interstaatliche Hochschule für Technik Buchs und die Fachhochschule Nordwestschweiz.
30. Mai 2019: Mit der Unterstützung durch unseren Mentor haben wir ein Innovationsprojekt bei Innosuisse eingereicht. Wahnsinnig, wieviel Daniel Portmann uns geholfen hat. Er hat gnadenlos Fragen gestellt und ist uns am richtigen Ort auf den Füssen herumgetrampelt. Das hat sich gelohnt: Unser Antrag wurde bewilligt!

17. Januar 2020: Die Zusammenarbeit im Team macht extrem Freude, wir lernen viel voneinander. Zurzeit testen wir in Luzern gerade einen Schneikopf-Prototypen. Ziel ist, im Sommer 2020 eine 600 Meter lange Testanlage zu bauen. Unterdessen wissen wir, dass die Wasserversorgung von über 200 Mio. Menschen im Himalaya vom Schmelzwasser der Gletscher abhängt. Es ist wichtig, dass wir unser Ziel erreichen.
Letzte Änderung 04.02.2022